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  • AutorenbildThomas Röhrßen

Corona und Compliance - ein Virus als Moralapostel?

Aktualisiert: 8. Jan.




Die alten Naturvölker sahen sich in einer tragischen Verflochtenheit mit der Welt. Die Katastrophen kamen über sie und versetzten sie in Angst. In ihnen verbarg sich ein heiliges Geheimnis, das wir das Numinose nennen. Die Macht der Götter in der Natur, die sie erschauern ließ. Wir leben jetzt in einer aufgeklärten Zeit aber auch in einer Welt in Aufruhr. Die Coronakrise kam über uns. Sie hatte uns zeitweise „fest im Griff“, sie hat uns auch innerlich ergriffen. Wie die magischen Naturvölker haben wir in dieser Krise die tragische Verflochtenheit des Einzelnen in einer globalen Welt am eigenen Leib erfahren dürfen. Wuhan war ganz schnell überall. Und das existentielle Zittern hat auch uns erfasst. Nur kurz gelang es einigen in der „Leichtigkeit des ersten Sommers danach“ fest daran zu glauben, dass nach dem Krisenwahn – wenn alles überstanden ist – der „Normalbetrieb“ in der Gesellschaft, in den Unternehmen und im eigenen Geist wiederhergestellt ist. Es war doch in den letzten Jahren fast schon ausgemacht, dass das Leben einfach so weiter geht. Oder nicht? Das Unternehmen Erde hat etwa 7,8 Milliarden Mitwirkende. Es musste sich schnell neu organisieren. Die Politik musste in allen Ländern "Compliance Leadership Performance" beweisen, einen Begriff den wir in unserer Unternehmensberatung neu definiert haben. Die meisten Menschen befolgten Regeln, die mehr oder weniger rational, wissenschaftlich und evidenzbasiert begründet wurden. Das größte „Sozialexperiment“ aller Zeiten, ein globales Complianceprojekt wurde 2020 in kürzester Zeit umgesetzt. Die Formel AHA+L (Abstand halten, Handhygiene einhalten,Alltagsmaske tragen + Lüften) gilt als Regelwerk in Coronakrisen nun überall. Nur wenige Verschwörungstheoretiker glaubten wie die Naturvölker an große dunkle Mächte.

Unter „Compliance“ verstehen wir nicht nur einfache „Regeltreue“. Compliance bedeutet nicht nur die Einhaltung von äußeren Vorgaben, sondern im medizinischen Sinn auch die innere Bereitschaft eines Patienten zur aktiven Mitwirkung an einer Behandlungsmaßnahme. Das setzt Verständnis, Vertrauen und Verbindlichkeit im Verhalten voraus.


Wir hatten/haben alle eine Maske auf, wissen wir auch warum? Was ist die moralische Grundlage unseres Maskentragens?

Der Psychologe Lawrence Kohlberg hat in 30 Jahren Forschung aufgezeigt, welche verschiedenen Entwicklungsstufen der moralischen Reife ein Mensch durchläuft bzw. durchschreiten kann. Sein Reifegrad bestimmt, welche Haltung er zu den Regeln seiner Gemeinschaft und auch seines Unternehmens einnimmt. Einem Menschen, der einen Mund-Nasen-Schutz in der Öffentlichkeit trägt, einem Mitarbeiter, der sich korrekt an die Regeln für Arbeitssicherheit am Arbeitsplatz hält oder einem Manager, der die Prinzipien des Corporate Governance Kodex im Unternehmen befolgt - all diesen Menschen sehen wir äußerlich zwar ihre Regeltreue an, aber wir wissen nicht, warum sie regeltreu handeln. Wenn wir Kohlberg folgen gibt es 6 verschiedene Stufen der moralischen Grundhaltung:

  1. Auf der ersten und untersten Stufe orientiert sich der Mensch an Strafe und Gehorsam. Ich möchte keinen Ärger bekommen, kein Ordnungsgeld bezahlen und keine Abmahnung erhalten, also setze ich die Maske auf. Ich mache, was verlangt wird – egal, ob es Sinn macht: „Gut ist, was mir nicht weh tut oder schadet“.

  2. Auf der zweiten Stufe richtet sich der Mensch egozentrisch vorzugsweise an den eigenen Bedürfnissen aus. Ich möchte gesund, munter und wohlhabend sein bzw. bleiben: „Gut ist, was vor allem mich schützt, mich weiterbringt und mir hilft“.

  3. Auf der dritten Stufe zählen für den Menschen vor allem das Wohlergehen, die Gewohnheiten und das Wohlgefallen der eigenen Gruppe, Familie und Gemeinschaft: „Gut ist, was meiner Gemeinschaft dient und bei uns so üblich ist.“

  4. Auf der vierten Stufe orientiere ich mich an den bestehenden Normen und Gesetzen der Gesellschaft und des Unternehmens. „Gut ist, wer sich als gesetzestreuer Staatsbürger und pflichtbewusster Mitarbeiter loyal an alle Regeln und Verordnungen hält.“

  5. Auf der fünften Stufe sieht der Mensch das Gesetz als historisch erarbeiteten Gesellschaftsvertrag bzw. das Regelwerk des Unternehmens als aktuell definierten Standard, der jederzeit hinterfragt und neu verhandelt werden kann und muss: „Gut sind gemeinsam getragene Regeln, über die immer wieder neu nachgedacht werden muss.“

  6. Auf der sechsten Stufe ist das eigene Handeln an selbstreflektierten universellen ethischen Prinzipien ausgerichtet. Die Regeln orientieren sich an Werten, die der Menschheit ­– dem universellen DU – dienen sollen. Der Mensch trägt eine Alltagsmaske, um seine Mitmenschen zu schützen. Er hält sich schon heute aus persönlicher Überzeugung an die Regeln, auch wenn die Verordnung erst ab morgen gilt, weil er diese aus eigenen Erkenntnissen und ethischen Erwägungen unabhängig von egoistischen Interessen, Gruppenmeinungen und auch unabhängig von „law and order“ als wertvoll für die Menschheit ansieht. Auch die aktuell anstehende Impfentscheidung ist dann eine, die nicht nur die individuelle Unversehrtheit des eigenen Körpers bedenkt, sondern auch auf die Krisenbewältigung unseres Gesundheitswesens, die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Lebens und das Wohl der ganzen Menschheit ausgerichtet ist. Was für eine anspruchsvolle moralische Entscheidung? Auf dieser Stufe orientiert sich der Mensch mehr an inneren Werten und ab-strakten Prinzipien, die er selbst gewählt hat. Dabei gilt der Kant`sche kategorische Imperativ: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde! „Gut sind persönlich reflektierte Werte und Prinzipien, die universell auch für die Menschheit gelten sollen und ihr dienen.“

Eine weitere Frage steht im Raum: Macht Corona Sinn? Nein, „an sich“ macht ein Virus keinen Sinn. Aber ja, „für uns“ kann die Krise schon Sinn machen. Dem Virus sind Mensch und Welt erst einmal gleichgültig. Wer dem Virus selbst oder einer Macht hinter dem Virus einen tieferen Sinn unterstellt, denkt magisch. Ein Virus ist auch kein Moralapostel. Und doch, kann der Mensch selbst der Krise einen Sinn verleihen. Er kann sich jetzt den Wertefragen stellen, die durch die Krise ausgelöst wurden. Was ist mir wirklich wichtig und woran orientiere ich mich in meinem Handeln? Was ist mein Wert, mein Prinzip, mein ehernes Gesetz? Und auch in den Unternehmenswelten wird neuerdings „purpose“ gesucht, der höhere Sinn und Unternehmenszweck, die Bestimmung und unternehmerische Verantwortung für die menschliche Gemeinschaft. Unsere Mitarbeitenden sollten in ihrem täglichen Handeln doch nicht nur aus Angst vor negativen Sanktionen sinnvoll und regeltreu handeln. Sie sollten sich nicht allein den Gewohnheiten ihres Teams verpflichtet fühlen. Sie sollten sich nicht der Autorität eines beliebigen Vorgesetzten blind unterstellen oder nur die Normen- und Regelwerke des Unternehmens stumpf einhalten. Im Konfliktfall sollte Loyalität „kritisch“ sein. Kritische Loyalität hinterfragt Regeln und Werte der Institution, der Gesellschaft und der Gemeinschaft auf der Grundlage übergreifender Sinnstiftung und selbstreflektierter Werte. Vielleicht hat Corona dazu beigetragen, einige individuelle, unternehmerische und universelle Werte in Frage zu stellen. Wenn ja, dann vielleicht weil es schon länger ansteht und weil wir es nun so wollen. Bleiben Sie gesund!


Ihr

Thomas Röhrßen



Post scriptum noch ein Hinweis: Die Krise ermöglichte meinem Kollegen Prof. (Saitama Med. Univ.) Dr. Dietmar Stephan und mir endlich unser Grundlagenwerk „Leadership Performance Krankenhaus“ fertig zu stellen (erschien in der Medizinisch Wissenschaftlichen Verlagsgesellschaft Berlin im Februar 2021)



Thomas Röhrßen ist Dipl.- Psychologe, Coach und Unternehmensberater. Er führt seit 30 Jahren Projekte zur Strategie- und Strukturentwicklung, zur Personalentwicklung sowie Führungstrainings und Coaching in unterschiedlichen Branchen durch. Als Leadership Experte hat er ein psychologisch fundiertes Führungskonzept entwickelt.

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