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Wie bewerten Sie sich selbst? Wie hoch ist Ihr CSE-Wert?

Aktualisiert: 16. Aug. 2023


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in Beitrag von Thomas Röhrßen


Die HR-Managerin Martina Niemeyer hat aus aktuellem Anlass zu einer operativen Videokonferenz des HR-Teams der Unternehmensgruppe eingeladen.

Auf der Agenda stehen die Probleme des neuen IT-Recruiting-Tools.


Während sie kurz das Problem und die Fragestellung erläutert, sieht sie bereits das düstere Kräuseln auf der Stirn von Patrick B. auf dem Bildschirm. Sie hat schon eine gewisse Videokonferenz-Routine entwickelt, die darin besteht aus der Gesichtsmimik auf dem Bildschirm schnell auf den inneren Zustand ihres Gegenübers zu schließen. Hier drängt es sich ja förmlich auf. Sie geht davon aus, dass Patrick B. sich wie gewohnt auch jetzt gleich ungeduldig einschalten wird. Volltreffer! Sie hat ihre kurze Einführung kaum beendet, da meldet er sich auch schon zu Wort: "Martina, vergiss es doch einfach. Da ändert sich erst mal nichts. Ich hatte euch ja gestern mal eine Liste der Probleme mit dem Tool zu gemailt. Man hat uns bei der Auswahl des Tools nicht mit einbezogen. Das war wieder eine einsame Konzernentscheidung und wir müssen das jetzt ausbaden. Die IT-Abteilung kümmert sich seit Wochen nicht um das Schnittstellenproblem zur administrativen Personalmanagement-Software. Der Support läßt ja auch zu wünschen übrig. Und die Schulungen müssen wir uns mal wieder mehr schlecht als recht selber organisieren. Es ist wie immer bescheiden. Das nervt."


Als nächstes meldet sich Laura N. mit dem "Winksymbol" und ihrem bedingungslos strahlenden Gesichtsausdruck zu Wort:

"Ich habe die Liste von Patrick auch gelesen und stimme ihm in den aufgelisteten Problempunkten vollkommen zu. Die Punkte sind von Patrick ziemlich gut beschrieben. Aus meiner Sicht sind alle Punkte aber auch lösbar. Mit der neuen Software werden wir nach meiner Einschätzung einen großen Sprung nach vorne machen, auch wenn die Implementierung etwas holprig war und vielleicht auch so weiter geht. Wir sollten uns nun auf die Schnittstelle konzentrieren. Ich denke, wir können in einem Gespräch mit der IT-Abteilung eine Vereinbarung über die Maßnahmen und Fristen erarbeiten und auch die Zuständigkeiten klären. Das ging doch vor 2 Jahren bei Einführung der neuen Abrechnungssoftware auch nachdem wir das Vorgehen stärker strukturiert und verbindliche Aktionspläne eingefordert haben. Wenn wir da keine Einigung bekommen, können wir uns immer noch an die Geschäftsführung wenden, um die Prioritäten der IT-Abteilung zu klären. Oder nicht? Selbst wenn wir keinen Druck machen würden, wären wir nach meiner Einschätzung in einem halben Jahr schon ziemlich weit. Die Geduld hätte ich. Sorry Patrick, das sehe ich gelassener."


Dass Mitarbeitende vollkommen unterschiedlich auf den gleichen Sachverhalt reagieren, wissen wir natürlich. Aber kennen wir auch die zugrundeliegenden psychologischen Ursachen und Prozesse?


Einen Bedürfnis-, Erlebens- und Verhaltenszustand, in dem sich ein Mensch befindet, nennen wir auch Modus. Ein Mensch entwickelt in seinem Leben gewisse Muster von Modi für ganz unterschiedliche Situationen. Es gibt persönliche Modi für Stresssituationen, persönliche Modi für den Umgang mit Misserfolgen, persönliche Modi in zwischenmenschlichen Konflikten, persönliche Modi für aufkommende Projekthindernisse etc. Über die bestehenden Probleme sind sich Patrick und Laura ganz einig. Und trotzdem: Sie bewerten die Sachverhalte aus ganz unterschiedlichen inneren Zuständen (Modi).


Der Schlüssel für die unterschiedlichen Erlebensweisen und Reaktionen der Mitarbeiter*innen liegt im limbischen System ihres Gehirns, das über „Prozessoren“ und „Softwareprogramme“ verfügt, die sie schon lange geschrieben, installiert und automatisiert haben. Diese „Programme“ sind nicht nur zuständig für Affekte und Alarmreaktionen, sondern auch für viele Denkroutinen und Verhaltensgewohnheiten, die nicht bewusst und willkürlich gesteuert werden. Menschen produzieren blitzschnell und automatisch Gedanken und Bewertungen, die die erfolgreiche Bewältigung von Problemen und den erfolgreichen Umgang mit anderen Menschen hemmen oder fördern können. Diese häufig eher unbewussten Prozesse können Zweifel aktivieren und Störimpulse senden oder sie aktivieren Ressourcen und unterstützen die Souveränität, das Selbstvertrauen und letztendlich den Erfolg eines Menschen. Hinter diesen situativen Bewertungen stehen meistens auch tief verankerte Grundannahmen (Prämissen) und Glaubenssätze („beliefs“), die sich im Leben verfestigt haben.


Die Kunst der Führung liegt darin, diese Modi der Mitarbeitenden hinter ihrem offensichtlichen Verhalten zu erkennen und mit ihnen angemessen umzugehen.


Es gibt 2 neuronale Netzwerke in unserem Gehirn, die wir als Führungskräfte anwenden können, um einen Mitarbeitermodus zu erkennen:


1. Das Theory of Mind - System (ToM) - Perspektivübernahme und Rekonstruktion Menschen verfügen über die Fähigkeit, sich gedanklich über Perspektivenübernahme in einen anderen Menschen hinein zu versetzen. Sie mentalisieren die nicht direkt beobachtbaren Inhalte des psychischen Erlebens ihres Gegenübers. Sie bilden dabei Theorien über das Zusammenspiel von Bedürfnissen, Gefühlen, Gedanken, Erwartungen und Absichten eines Menschen. Diese Fähigkeit der Rekonstruktion von inneren Wirklichkeiten von Menschen gibt ihnen die Möglichkeit, das Verhalten des Gegenübers in gewisser Hinsicht vorauszusagen. Über dieses „Theory of Mind-System“ versucht eine Führungskraft die Persönlichkeit und innere Erlebniswelt des Mitarbeiters (in der Regel schon vor einem Gespräch) mental zu rekonstruieren. Dabei werden mit Blick auf die Anforderungen verschiedene Szenarien, Optionen und wahrscheinliche Reaktionsmuster durchgespielt.


2. Das Empathiesystem - simultane Spiegelung und Introspektion Neben der mentalen Rekonstruktion gibt es noch eine ganz spontane Resonanz. Für dieses System wird häufig auch der Begriff der Spiegelneurone verwandt. Im laufenden Dialog schließt dieses System ganz automatisch aus der Blickrichtung, der Mimik, der Gestik und dem Körperausdruck unseres Gegenübers intuitiv auf seine Gefühle, Körperempfindungen und Impulse. Die Nutzung des Empathiesystems setzt eine Aufmerksamkeitsfokussierung bei der Führungskraft in Richtung auf den eigenen Körper- und Seelenzustand voraus. Diese Selbstwahrnehmung nennen wir Introspektion ("Innenschau"). Leider erkennen, nutzen, entwickeln und professionalisieren viele Führungskräfte dieses System häufig nicht ausreichend.

"In der aktuellen Begegnung mit den Mitarbeitenden kann die Führungskraft immer wieder auf das Empathiesystem zurückgreifen und sich dieses zunutze machen. Es sind viele 'limbische' Funktionen daran beteiligt. Anders als das 'Theory of Mind'-System ist dieses gegenwartsbezogene System auch ohne mentalen Zugriff des Bewusstseins immer automatisch in Arbeit und im Flow. Mit dieser 'Spiegelung' erzeugt das System kontinuierlich und automatisch Simulationen der inneren Reaktionen unseres Gegenübers. Über dieses System können wir auch prüfen, ob unsere 'Theory of Mind' über den/die Mitarbeiter*in stimmt. Wenn die Signale aus diesem System unsere Hypothesen nicht stützen, dann haben wir uns wohl getäuscht und müssen mit neuen Annahmen arbeiten."

(Thomas Röhrßen und Dietmar Stephan. Leadership Performance Krankenhaus. Berlin 2021. S. 104 f.).

Die HR-Managerin Martina B. setzt innerhalb der Videokonferenz beide Systeme ein:

Über ihr Empathiesystem kann Martina ausgehend von Patricks Mimik und Ausdrucksverhalten auf dem Monitor kontinuierlich auf seinen inneren Zustand (Modus) schließen. Sie spiegelt seine Anspannung und Gereiztheit in ihrem Inneren und nimmt über Introspektion ("Innenschau") Kontakt zu diesem Zustand auf. Meine Erfahrungen mit einem verstärkten Einsatz von Videokonferenzen und Videocoaching innerhalb der Corona-Krise zeigen, dass das Lesen, Spiegeln und Interpretieren von Mimik und Ausdrucksverhalten bei optimaler Bildschirmgröße und hoher Auflösung im virtuellen Dialog teilweise sogar besser gelingt, als bei physischer Begegnung mit Abstand in einer darüber hinaus noch ablenkenden Raum- und Umfeldsituation - ganz zu schweigen von einem Dialog hinter Alltagsmasken.


(vgl. den Beitrag "Die Krise als Chance - VideoCoaching die unterschätzte Alternative" in diesem Leadership BLOG).


Auf der Grundlage ihres Theory of Mind - Systems kann Martina weiterhin Patricks Modus in ein von ihr konstruiertes "Persönlichkeitsmodell" von Patrick einordnen und voraussagen, wie er mit großer Wahrscheinlichkeit die Situation für sich verarbeitet hat und sich verhalten wird.


Ich habe dargestellt,


a) dass Menschen in Anforderungssituationen blitzschnell und automatisch Gedanken und Bewertungen produzieren, die eine erfolgreiche Bewältigung von Problemen und den erfolgreichen Umgang mit anderen Menschen hemmen oder fördern können und dass

b) diese Bewertungen vom eigenen Selbst-, Menschen- und Weltbild abhängen, welches sich in tief verankerten Glaubenssätzen offenbart.


Diagnostisch sollten Führungskräfte typische Denk- und Bewertungsmuster von Menschen erfassen können, um ihr aktuelles Erleben und Verhalten gut verstehen und einordnen zu können.


In der Psychologie wurden ausgehend von dem Forschertrio Judge, Locke und Durham (1997) inzwischen zahlreiche Studien zu dem vierdimensionalen Konzept der zentralen Selbstbewertung („Core Self Evaluations“) durchgeführt. Die CSE (Core Self Evaluations) konnten als signifikanter Ursachenfaktoren für psychisches Wohlbefinden, Arbeitszufriedenheit, Gesundheit, Leistung und Erfolg im beruflichen Kontext nachgewiesen werden. Die Core Self Evaluations beschreiben unbewusste, fundamentale Annahmen, die ein Mensch über seinen eigenen Wert, seine Wirksamkeit und Kontrolle in einer Situation sowie seine Perspektive in der Welt trifft.


Patrick und Laura haben 2 ganz unterschiedliche zentrale Selbstbewertungen (CSE-Werte), was wir anhand der 4 Dimensionen der Core Self Evaluations aufzeigen können:

  1. Kontrollüberzeugung

Die Kontrollüberzeugung beschreibt, wo der Ort der Kontrolle ("locus of control") einer Person ist. Liegt die Kontrolle im Selbsterleben der Person, in ihr selbst oder liegt der Ort der Kontrolle außerhalb bei fremden Mächten.



2. Selbstwirksamkeitsüberzeugung


Die Selbstwirksamkeitsüberzeugung definiert, ob eine Person in ihrer subjektiven Selbstbewertung über ausreichend Kompetenzen und Ressourcen verfügt, die Situation zu bewältigen oder nicht.




3. Emotionale Stabilität


Dieser Faktor bezieht sich auf die eigene Emotionssteuerung bei der Wahrnehmung von Situationen und eigener Aussichten in der Welt.





4. Selbstwert

Dieser Faktor beschreibt den Grad an Selbstakzeptanz einer Person.




Patrick B. macht sich seine Welt so, wie sie nicht gefällt. Aber, er ist vollkommen überzeugt von seiner Sicht. Laura N. macht sich ihre Welt so, wie sie ihr gefällt. Auch sie ist vollkommen überzeugt von ihrer Sicht. Dabei geht es Laura deutlich besser.


Wie hoch ist Ihr CSE-Wert auf einer Skala zwischen 0 und 16?

Sie können sich diesen Blog ausdrucken und einmal in den 4 Dimensionen auf den Skalen (0-4) eine CSE-Selbstbewertung vornehmen und die Summe bilden. Interessant wäre wohl auch die Fremdbewertung durch eine Ihnen nahestehende Person.



Thomas Röhrßen ist Dipl.- Psychologe, Coach und Unternehmensberater. Er führt seit 30 Jahren Projekte zur Strategie- und Strukturentwicklung, zur Personalentwicklung sowie Führungstrainings und Coaching in unterschiedlichen Branchen durch. Als Leadership Experte hat er ein psychologisch fundiertes Führungskonzept entwickelt.

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