Ein Beitrag von Thomas Röhrßen
Mehrere Personen sitzen in einem Wartebereich vor einem Büro, in dem eine Sekretärin arbeitet. Die Tür zum Büro ist offen, aber man kann nicht hineinsehen. Die Wartenden können hören, wie die Sekretärin offenbar auf den Stuhl steigt, herunterfällt und sich dabei verletzt. Sie stößt einen Schrei aus und stöhnt. Kein Wartender reagiert.
Theologiestudenten haben sich auf einen Vortrag zum Gleichnis vom guten Samariter vorbereitet, den sie in einem Seminargebäude halten müssen. Sie eilen unter Zeitdruck dorthin und treffen auf dem Weg auf einen ärmlich gekleideten Mann, der mit geschlossenen Augen in einem Türeingang sitzt. Er hustet und stöhnt laut. Keiner hilft.
In der Straßenbahn wird ein Farbiger von zwei Männern belästigt, verspottet und am Aussteigen gehindert. Ein Video dokumentiert, wie die Mitfahrenden erst einmal versuchen, das Geschehen zu ignorieren, bis der ein oder andere dann endlich Mut fasst und eingreift.
In allen Fällen handelt es sich um psychologische Experimente, bei denen Schauspieler eingesetzt wurden. Es gibt zahlreiche Varianten dieser Experimente. Die Ergebnisse weisen alle in eine ähnliche Richtung: die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person in eine Notsituation eingreift, sinkt mit zunehmender Anzahl der Beteiligten. Sensationslust kann das Problem noch verschärfen. Bei Verkehrsunfällen gerät inzwischen jedes 6. Unfallopfer aufgrund der Behinderung der Rettungseinsätze durch Schaulustige ("Gaffer") in zusätzliche Gefahr.
"Nach einer Studie der Ruhruniversität Bochum zum Verhalten bei Unfällen wurde festgestellt, dass 80% der Deutschen potentielle Gaffer sind. Eine Untersuchung der Bundesanstalt für Straßenwesen (BAST) zeigte, dass bei 75% der Unfälle Schaulustige für die Behinderung verantwortlich sind." (Unfallgaffer- Die Sensationslust wird immer größer. Presseerklärung der Arbeitsgemeinschaft der Notärzte in Bayern (2010)
In der psychologischen Forschung wird dieses Phänomen als bystander-Effect („Zuschauereffekt“) bezeichnet.
"In einer deutschen Klinik kommt es ab dem Jahr 2000 zu einer auffälligen Häufung von Reanimationen und Todesfällen in einem Intensivbereich. Es soll eine intern erstellte Liste gegeben haben, aus der hervorging, dass diese Auffälligkeit in Verbindung mit der Dienstanwesenheit eines bestimmten Pflegers stand. Der Pfleger stand intern viele Monate unter Beobachtung und Verdacht. Er hat zahlreiche Patienten getötet. Inzwischen ist dieser für die größte Mordserie der Bundesrepublik verantwortliche Pfleger überführt und zu lebenslanger Haft verurteilt. Dieser Fall hat im Extremen aufgezeigt, wie innerhalb der Patientenversorgung und „unter den Augen“ vieler Beteiligter vorsätzliche Straftaten mit unvorstellbaren Konsequenzen möglich sind. Die Frage nach der Verantwortungszuschrei-bung im Umfeld des Täters ist komplex: Welche Auffälligkeiten wurden von wem wann wahrgenommen? Welche Verantwortung ergab sich daraus? Staatsanwaltliche Ermittlungen in diesem Fall richteten sich in der letzten Zeit auf das möglicherweise fahrlässige Handeln der ärztlichen und pflegerischen Führungskräfte im direkten beruflichen Umfeld und sogar auf die Verantwortung der Geschäftsführung des Klinikums."
(Thomas Röhrßen und Dietmar Stephan. Leadership Performance Krankenhaus S. 96 f.)
Wenn wir den Fokus nun weg von psychologischen Experimenten und von einem einzigartigen Extrembeispiel der deutschen Nachkriegsgeschichte auf den "normalen" betrieblichen Alltag von Kliniken und anderen Unternehmen richten, dann finden wir natürlich extrem selten vorsätzlich riskantes Verhalten, bei dem die Schädigung eines Patienten oder Kunden billigend in Kauf genommen wird. Häufig entstehen größere Risiken und Qualitätsprobleme fast unbemerkt aus kleinen Unterlassungen, Fahrlässigkeit oder Regel- und Verhaltensabweichungen, die in kritischen Ereignisketten eskalieren können. Es liegt dann häufig zusätzlich noch ein Organisationsverschulden vor, weil fahrlässig unklare Zuständigkeiten hingenommen werden. Oder es liegt zusätzlich auch noch ein Führungsverschulden vor, weil fehlende Verantwortungsübernahme und mangelnde Regeltreue einfach toleriert werden. Das problematische Mitarbeiter-, Führungs- und Organisationsverhalten wird dann viel zu häufig noch bagatellisiert, obwohl es ursächlich für manche Katastrophen sein kann.
Unternehmensorganisationen sind komplex: viele Ebenen, Funktionen und Leistungsträger müssen in den Prozessen koordiniert und integriert „wie aus einer Hand“ zusammenarbeiten und dabei eine Fülle von Regeln, Vorschriften und Standards einhalten, um Qualität und Verfahrenssicherheit zu gewährleisten. Dies erfordert Aufmerksamkeit, Verantwortungsbereitschaft und Regeltreue bei allen Beteiligten.
Wenn wir über unsere Führungsarbeit auf kritische Abweichungen erfolgreich einwirken wollen, dann müssen wir verstehen, welche Voraussetzungen psychologisch erfüllt sein müssen, damit sich ein Mensch verantwortlich fühlt und sich dann in einer Situation angemessen und regelkonform verhält.
Ergebnis der psychologischen Forschung ist das „five-step-decision-making-Modell“ für verantwortungsvolles Handeln:
1. Wahrnehmen: „Da stimmt doch was nicht!“
Ich muss die Situation, die Abweichung und Auffälligkeit erst einmal bemerken.
Bei innerer oder äußerer Ablenkung sowie unter Zeitdruck wird eher weggeschaut. Von den Theologiestudenten, die unter Zeitdruck gesetzt wurden, halfen nur 4%; von jenen, die nicht unter Zeitdruck standen, 63%!
2. Richtig erkennen: „Jemand muss eingreifen, Hilfe ist notwendig“
Ich muss erkennen, dass es sich um eine Situation handelt, die ein Einschreiten erfordert. Häufig wird das passive Verhalten anderer Personen fälschlicherweise beruhigend als Hinweis dafür angesehen, dass nichts getan werden muss.
Das nennen Psychologen pluralistische Ignoranz.
3. Entscheiden: „Ja, ich übernehme Verantwortung.“
Will ich wirklich Verantwortung übernehmen? Wenn neben mir ein oder mehrere weitere potenzielle Helfer in Frage kommen, wird die Verantwortung häufig auf alle verteilt. Das wird als Verantwortungsdiffusion bezeichnet.
Manchmal wird die Verantwortung sogar ganz verschoben. In diesem Fall wird jemand anderem einfach mehr Verantwortung zugeschrieben: „Es ist doch seine/ihre Verantwortung“. Das könnte man als stillschweigende Verantwortungsdelegation bezeichnen; eine Delegation, die auf keiner gemeinsamen Vereinbarung beruht.
4. Sich als kompetent wahrnehmen: „Ja, ich kann etwas tun.“
Um einzugreifen, brauche ich eine sogenannte Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Ich muss erst wissen, ob ich wirklich etwas sagen oder tun kann. Menschen mit kritischer Selbstbewertung handeln weniger hilfreich: “Es gibt doch andere Menschen, die das besser können als ich“, „Er/sie kann sicher mehr Verantwortung tragen als ich“ oder „Ich möchte doch nicht versagen und mich auf keinen Fall blamieren“.
5. Aufwand und Konsequenzen prüfen, dann handeln: „Ich greife entschlossen ein.“ In diesem Schritt wird geprüft, ob das Eingreifen aufwändig oder mit negativen Folgen für mich oder andere verbunden ist. Bei großem Aufwand und einem hohen Fremd- oder Selbstschädigungsrisiko sinkt der Mut zur Tat. Wie sieht es in unseren Unternehmen aus?
Wie häufig ärgern wir uns über Mitarbeitende, die – aus unserer Sicht - in einer kritischen Situation keine Verantwortung übernommen haben?
„Viel Stress…Wenig Zeit…Sorry, habe ich nicht gesehen…Ist mir wirklich nicht aufgefallen....Klar, aber dafür sind doch andere zuständig…Das ist nicht meine Aufgabe....Da konnte man doch gar nichts mehr machen…Was hätte ich denn tun sollen?...Da exponiere ich mich doch nicht…Das hätte wieder Ärger gegeben…Ich will doch niemanden anschwärzen.....Das hätte ich dann wieder ausbaden müssen...Nein, das bringt doch wirklich nichts“.
Sie werden wohl zustimmen: Es ist unsere Führungsaufgabe, Mitarbeitende darin zu unterstützen, Verantwortung zu übernehmen. Was können wir tun? Durchgehen-Lassen, Kritik oder Sanktionierung – das entscheiden Sie. Wir sollten aber vor allem unbequeme Dialoge nicht scheuen. In diesen Dialogen können wir den Mitarbeitenden das Wissen, die Macht und die Freiheit (wieder) geben, das Schädliche zu unterlassen und das Wichtige und Richtige zu tun.
Wie geht das?
1. Wissen. Ein Mensch sollte wissen, welche Folgen durch sein Tun oder Lassen entstehen – auch mit Blick über den Tellerrand der gegenwärtigen Situation hinaus. Das ist Aufklärung: „Sie hätten wissen können, dass diese und jene Folgen eintreten können.“
2. Macht. Ein Mensch sollte sich seiner Macht, seiner Einflussmöglichkeit und seiner Wirksamkeit bewusst sein. Er hat meistens mehr Fähigkeiten und Möglichkeiten zu handeln, als er denkt. Das ist Arbeit an der Selbstwirksamkeitsüberzeugung: „Sie hätten doch dies sagen, das tun oder das lassen können.“
3. Freiheit. Freiheit und Verantwortung sind zwei Seiten einer Medaille. Wer die Freiheit zur Entscheidung hat, trägt Verantwortung, ob er will oder nicht. Wir können unseren Mitarbeitenden diese Freiheit und Selbstverantwortung (wieder-) geben: „Es war Ihre freie Entscheidung und damit auch Ihre Verantwortung. Sie hätten sich in der Situation für A entscheiden können, haben sich aber entschieden, A zu lassen und B zu tun.“
Verantwortung ist überall und umfassend. Gehen wir von der Verantwortung der Mitarbeitenden zur Verantwortung in der Führung. Der Einfluss von Führungskräften ist begrenzt und doch: sie tragen Verantwortung für ihren Bereich, ihre Mitarbeitenden und teilweise auch für die Zukunft des Unternehmens. Denn sie haben in vielen Situationen genug Wissen, Macht und Freiheit, etwas Richtiges zu tun und etwas Schädliches zu lassen.
Thomas Röhrßen ist Dipl.- Psychologe, Coach und Unternehmensberater. Er führt seit 30 Jahren Projekte zur Strategie- und Strukturentwicklung, zur Personalentwicklung sowie Führungstrainings und Coaching in unterschiedlichen Branchen durch. Als Leadership Experte hat er ein psychologisch fundiertes Führungskonzept entwickelt.
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